Eine gut gelaunte Sonne wirft uns ihre Strahlen vor die Füße, als wir um halb Zehn das Haus verlassen. Ein fabelhafter Tag, um zu demonstrieren! Wir sind ein bisschen spät dran, wie das eben so ist, wenn man ein Baby hat. Mit zügigen Schritten laufen wir durch den noch schlafenden Bezirk Mitte, vorbei an müden Wirten, die träge die Rollläden ihrer Frühstückslokale nach oben kurbeln.
Dieser Teil der Stadt erwacht eigentlich erst in ein paar Stunden so richtig zum Leben, doch am heutigen Samstag sind die Gehwege voller als üblich. Es sind etliche Eltern unterwegs, die sich mit uns dem Bahnhof Friedrichstraße nähern.
Als wir hinter dem Bahnhof auf den Dorothea-Schlegel-Platz biegen sehen wir sie – dutzende Luftballons, hunderte Kinderwagen und tausende Menschen. Wir stehen am Startpunkt der Demo gegen die Berliner Kita Krise und mein Herz macht einen kleinen Hüpfer. Ich war gespannt, wie viele Demonstranten hier heute auftauchen würden, schließlich sind feste Termine und der Alltag mit Kind(ern) nicht selten schwer zu vereinen.
Wir gesellen uns zu all den anderen Frühaufstehern und warten darauf, dass der Protestmarsch zum Brandenburger Tor losgeht.
Die jüngste Demo Berlins
Nachdem das akademische Viertel verstrichen ist, setzt sich die Kinderwagenkolonne in Bewegung und rollt gemächlich aber bestimmt durch Berlins Mitte. Gelbe Luftballons schunkeln im warmen Wind.
Wir müssen unseren Kindern eine Stimme geben
Der Altersdurchschnitt der Demonstranten ist absurd gering. Wenn ich mich hier so umschaue, sehe ich mehr Windeln als ich zählen kann. Viele Demonstranten reichen mir gerade mal zu den Knien. Dazu gehören Eltern, die bemalte Laken und Plakate in den grell blauen Himmel strecken.
Niere gegen Kitaplatz
Trotzdem ich die Kitaplatzsuche organisiert, sehr früh und hartnäckig angegangen bin, schleichen doch in den hinteren Ecken meines Kopfes diese fiesen Zweifel umher. Hätte ich nicht doch wöchentlich bei den Kitas anrufen sollen? Hätten wir mit einer Weihnachtskarte an die Kitaleitung schon einen Platz für Charlie? Vielleicht sollte ich doch mal lernen Bestechungskuchen zu backen?!
Wieso zweifle ich eher an mir, als am System?
Während wir mit tausend anderen Eltern und Erzieher*innen durch die Hauptstadt laufen, lasse ich mich zum ersten Mal von einem Gedanken überzeugen: unsere erfolglose Suche nach einem Kitaplatz liegt nicht an mir!
Es kann nicht sein, dass uns die gegenwärtige Situation in diesen absurden Konkurrenzkampf unter Eltern treibt. Ich tue mein bestes, um für meinen Sohnemann einen Betreuungsplatz zu finden, aber ich werde nicht anfangen die anderen Eltern auszustechen, indem ich jede Woche mit einem frischen Blech hoffnungsvoller Kekse an Kitatüren klopfe.
Mein Unverständnis gilt nicht den Kitas, die verlangen, dass man regelmäßig sein Interesse bekundet und seine Elternzeit mit Hausbesuchen verbringt. Auch nicht den anderen Eltern, deren Grußkarten vermutlich mehr Erfolg haben, als unsere E-Mails. Meine Wut gilt der Politik, die offenbar nicht in der Lage ist, schnell genug auf das zu reagieren, was seit Jahrzehnten angestrebt wird: die Verjüngung der Gesellschaft durch mehr Kinder.
Wenn Mutti zur Demo lädt
Wir nähern uns dem Brandenburger Tor und somit dem Ziel und Ort der Kundgebung. Während einige Meter weiter Touristen die Friedrichstraße entlang bummeln bündeln sich auf dem Pariser Platz die schweren Gedanken sorgenvoller Eltern.
»Rechtsanspruch ohne Finanzierung ist wie ein Kinderwagen ohne Räder«
Zahlreiche Betreuer und deren Gewerkschaften schwingen große Transparente, die bessere Arbeitsbedingungen und mehr Unterstützung fordern. Die Sonne brennt inzwischen ebenso wütend herab und beleuchtet ihre Plakate.
Außerdem schieben sich zahlreiche Babybäuche durch die Menge – auch der nächsten Generation soll hier schließlich eine Stimme verliehen werden.
Während in einem Zelt mit der Aufschrift Verpflegung Wasserflaschen verschenkt werden, stehen vor einem anderen etliche Kinder brav Schlange, um sich die Gesichter schminken zu lassen. Ich verziehe mich erstmal in die Stillecke, in der bereits eine handvoll anderer Mamas ihren Kindern ein zweites Frühstück servieren.
Schon im Vorfeld wurde die Kita-Krise online groß thematisiert. Fast 70.000 Unterschriften hat Christine Kroke mit ihrer Petition gesammelt, nachdem ihr nach über einem Jahr Kitaplatz-Suche der Kragen geplatzt war.
Eine sehr gut organisierte Demonstration
Die Veranstalter der Demo in Berlin sind allesamt Eltern mit ganz eigenen Erfahrungen rund um das Thema Kinderbetreuung. Sie haben für alles gesorgt, was Eltern und Kinder bei dieser Großveranstaltung bei Laune hält. Zweifelsohne die kinderfreundlichste Demo, auf der ich jemals war.
Und doch befinden wir uns nicht auf einem Volksfest. Die Reden auf der kleinen Bühne vor den Säulen des Brandenburger Tors sind emotional und hitzig.
»Kita statt Küche« fordert ein Vater, der sein Plakat in der einen Hand und seinen Sohn an der anderen hält.
Er bringt damit auf den Punkt, was viele von uns so wütend macht. Keine Kinderbetreuung zu haben bedeutet enorme Auswirkungen auf unsere berufliche Zukunft.
Fehlende Kitaplätze – Grundstein eines haushohen Problems
In Berlin geht es seit Jahren einem sozialem Sektor nach dem anderen immer schlechter. Was beim Erzieher-Mangel beginnt, setzt sich im weiteren Bildungsweg unserer Kinder fort.
Freunde mit älteren Kindern berichten mir von ähnlichen Sorgen beim Thema Grundschule. Auch dort gäbe es in vielen Bezirken zu wenig Plätze für zu viele Erstklässler. Volle Klassen und Lehrer, von denen immer mehr Engagement vorausgesetzt wird, sind die Folge. Die Schwächen der Bildungspolitik bekommen wir mit jedem Jahr, das ohne die erforderlichen Investitionen ins Land geht, mehr zu spüren.
Laut offiziellen Angaben fehlen 2018 rund 3.000 Betreuungsplätze für unsere jüngsten Berliner. In vielen deutschen Großstädten ist die Lage ähnlich katastrophal. Auch bei uns hat sich noch nichts ergeben, seit mittlerweile einem Jahr sind wir auf der Suche nach einem Betreuungsplatz. Und es fällt uns immer schwerer die Hoffnung nicht aufzugeben.
Wenn der Bildungshaushalt verwahrlost
Die Veranstaltung neigt sich dem Ende zu, als die Sonne ihren Zenit erreicht und uns ausreichend durchgebraten hat. Der Wind trägt schleppend die letzten Worte einer feurigen Rede über unsere Köpfe.
»Wenn wir nicht gehört werden kommen wir wieder!«
Applaus brodelt von der Bühne bis zu uns auf die Mitte des Pariser Platzes und versiegt schließlich blubbernd unter den Linden, wo noch vereinzelt Menschen mit Kinderwagen stehen und still protestieren.
Ich bin froh heute hier hergekommen zu sein. Es hat mich daran erinnert, dass wir alle im selben Boot sitzen und nur gemeinsam etwas erreichen können. Wir verlassen die Demonstration mit der Hoffnung, dass wir heute die richtigen Leute zum Hinsehen bewegt haben.
Und wenn nicht, dann satteln wir unser Kinderwagen und kommen wieder!