Die Augen blinzeln trübe zwischen tiefen Falten im Antlitz, der Atem geht schwer und klingt abgekämpft. Nach dem Tumult der glanzvollen letzten Tage ist nun die Erschöpfung eingetreten. Es hat genug gesehen, das Jahr 2018. Genug gefordert und genug gegeben.
Noch ein paar Stunden steht es hier irgendwie im Weg herum, bevor es sich irgendwo im Nirgendwo zur Ruhe setzen kann. Ich umarme es vorsichtig und bedanke mich.
»Du warst ein großartiges Jahr!«
Flüstere ich »eines der besten meines Lebens!«. Ein müdes Lächeln huscht über den zahnlosen Mund und dann bricht auch schon die Nacht herein.
Frühjahr
Das Jahr begann mit kristallklarer Kälte. Die letzten Wintermonate fühlten sich traditionell endlos an und wir steckten wir in einer Art grauem Brei aus Zeit. Tag und Nacht verschwammen ineinander, klein Charlie war gerade erst dabei sich einen Tag-Nacht-Rhythmus anzueignen und das hieß für uns: schlafen, wenn das Baby schläft. Alle drei Stunden Mahlzeiten verabreichen, danach wieder Kräfte sammeln. Bis das Frühjahr so richtig in Gang kam, waren wir überwiegend eines: müde!
Als wir im Februar einen Lagerkoller bekamen und die eigenen 4 Wände nicht mehr sehen konnten, haben wir unseren ersten kurzen Urlaub als kleine Familie gebucht. Unser, bis unter die Decke vollgepacktes, Auto fuhr uns an einen See. Ein paar Tage haben wir unsere Seelen und das kleine Baby im Tragetuch baumeln lassen; sind am See spazieren und gut Essen gegangen. Das hat alles so reibungslos geklappt, dass wir ein paar Wochen später unsere erste Flugreise zu dritt antraten und Urlaub in Sevilla machten.
Zwischen diesen Urlauben passierte nicht so viel. Ein Mal die Woche schwang ich unmotiviert in meinen Rückbildungskurs die Hüften und ging sonst meinem Hauptberuf – dem Stillen nach. Erst als die Tage wieder merklich länger und die Sonne wärmer wurde, kam auch meine Energie langsam zurück.
Sommer
Eine Hitzewelle walzte durch die Häuserschluchten Berlins und drückte die schwitzenden Menschen in die Parks. Welker Rasen knisterte unter Flip-Flop Sohlen, die Luft flimmerte über schwarzem Asphalt, der leise in der Sonne brodelte.
Meine Lieblingsjahreszeit war dieses Jahr definitiv anders als gewohnt. Wo sonst mit jedem Grad steigender Temperatur auch meine Laune wächst, machte ich mir diesen Sommer viele Gedanken darüber, ob das Baby wohl meine Begeisterung teilt. Ich hüpfte mit ihm von einem Schattenplätzchen zum nächsten und hatte meine Hand ständig prüfend auf seinen roten Wängchen.
2018 hatte ich endlich mal angemessen Zeit, um meine allerliebste Jahreszeit richtig intensiv zu genießen. Aus dem Kinderwagen baumelten nackige Speckbeinchen, während ich meine tägliche Runde durch den Kiez drehte. Ich sog all die sonnenbeschienenen Momente auf – alles speichern für die dunkle Jahreszeit! Jedes Geräusch der Kinder auf dem Wasserspielplatz, jede Kugel Eis aus unserem Lieblingseisladen, jeden Mückenstich.
Nach 6 Monaten als frische Familie hatten wir uns richtig gut eingegrooved. Wir verstanden Babys wortlose Sprache, hatten so etwas wie einen Schlafrhythmus und einen recht geregelten Alltag mit kleinen Ritualen. Kurz: Eigentlich hatten wir alles im Griff. Das die ersten Zähne und zahlreiche Erkältungen dies bald torpedieren würden, wussten wir zu diesem Zeitpunkt glücklicherweise noch nicht.
Die einzige graue Wolke, die sich immer mal vor unsere Sonne schob, war die erfolglose Suche nach einem Kitaplatz. Monatelang nutzte ich die Zeit, in der Charlie seine Nickerchen machte damit, alle Kitas der Umgebung abzutelefonieren. »Wir sind immer noch sehr interessiert an einem Platz in ihrer Einrichtung!« Woche um Woche verging, ohne eine Zusage. Die Berliner Kita-Krise hatte uns voll im Griff.
Der Blick ins Ungewisse sollte meine Elternzeit nicht trüben, mir nicht den Sommer mit dem zauberhaften Baby vermiesen, aber es fiel mir schon schwer die Gedanken an den ungewissen Winter gehen zu lassen.
Als Charlie schließlich Krabbeln und eigenständig stehen konnte, haben wir viel Zeit auf Spielplätzen verbracht. Er robbte freudig durch den Sand und klaute anderen Kindern ihr Buddelspielzeug.
Herbst
Fast unbemerkt zog Morgen für Morgen ein immer kühler werdender Wind durch die Stadt. Die ersten Blätter fielen in Zeitlupe durch dichte Nebeldecken, aber so ganz wollte sich der Sommer noch nicht so geschlagen geben. Die blasse Sonne kämpfte sich erfolgreich den ein oder anderen Tag an den Herbstwolken vorbei und bescherte uns ein fabelhaftes Finale.
So wie die Blätter an den Bäumen veränderte sich auch bei uns einiges. Ich habe nach 10 Monaten abgestillt. Ein sehr großer Schritt für mich als Mama; Charlie schien es gar nicht wirklich zu interessieren, dass er seine Milch nachts nun aus einer Flasche statt der Brust nuckelte. Für mich bedeutete das Abstillen in erster Linie Freiheit. Ich aß wieder, was ich essen wollte und trank eines Abends, zur Feier meiner wiedererlangten Unabhängigkeit, einen Cocktail, der unterwältigend war.
Da sich noch immer keine Betreuung für Charlie gefunden hatte, verlängerte ich meine Elternzeit um ein halbes Jahr. Das verschaffte mir fürs Erste zwar etwas mehr innere Ruhe, meinem Konto allerdings eine Diät.
Im Oktober feierten wir bei 25°C ein Jahr Charlie. Und ein Jahr Elternsein. Ein paar Tage nach seinem Geburtstag fing der kleine Nicht-mehr-Baby-Mann dann auch an zu laufen. Die wohl größte Veränderung in diesem Jahr. Seitdem ist dieses Kind kaum mehr zu bremsen und ich liebe es.
Und endlich, endlich, endlich bekamen wir dann auch einen Kitaplatz. Halleluja! Ich hatte schon fast nicht mehr dran geglaubt…
Winter
Weichgespült plätscherte schließlich der Winter ins Land. Zaghaft hauchte er einen dünnen Rauhreif-Schleier über Wald und Wiesen, malte Schneeflocken und Fragezeichen an beschlagene Scheiben.
Trotz milder Temperaturen war ich so oft krank, wie nie zuvor. Waren wir im letzten Jahr durch unsere Baby-Bubble hauptsächlich zu Hause und somit von allen Keimen abgeschottet, so bekamen wir diesen Winter die volle Breitseite. Wir machten uns als kleine Familie mit allen möglichen Keimen aus der Kita bekannt. Wochenlang lagen Papa, Mama oder auch Kind knatschig im Bett; ich kann mich nicht daran erinnern, wann wir mal alle gemeinsam gesund waren.
Vom Drei Tage Fieber bis zum Notarzt und Krankenhaus dank Fieberkrampf haben wir alles mitgenommen. Aktuell bin ich ganz froh darüber, dass wir nur unter Schnupfennasen leiden, da gibt es ja noch ganz andere Kaliber im Kinderkrankheits-Repertoire.
Damit es nicht langweilig wird, sprießen gerade jetzt zum Jahresende mal wieder die Zähne. Vier Backenzähne bohren sich gerade zeitgleich durch. Ich bin echt erstaunt, wie ruhig die Nächte trotz dessen ablaufen. Toi toi toi. Es ist wahnsinnig, was diese kleinen Menschen alles durchhalten, um überhaupt in den Genuss der Grundausstattung eines Menschen zu kommen. Eine wahre Meisterleistung.
Charlie ist trotz krankheitsbedingten Unterbrechungen sehr gut in seiner Kita angekommen. Die Eingewöhnung ging recht reibungslos und er rennt und tobt fleißig mit seinen kleinen Kollegen durch den Tag. Es vergeht kaum ein Tag, an der er sich keine neue Schramme zuzieht, zu groß ist die Neugierde und der Mut.
Die Adventszeit stand 2018 in einem ganz besonderen Glanz. War Charlie im letzten Jahr einzig und allein damit beschäftigt abwechselnd Magen und Windel zu füllen, nahm er dieses Jahr viel mehr an der Vorweihnachtszeit teil. Er durfte jeden Tag das Päckchen am Adventskalender aussuchen und half beim Schmücken des Weihnachtsbaumes.
Und nun sitze ich hier, in dieser buntesten aller Nächte und freue mich über alles erlebte. Alles was mich hat stärker werden lassen, was uns als Familie näher zusammen brachte und all die einzigartigen Momente, die man erst zu schätzen weiß, sobald sie an einem vorbeigezogen sind. So viel Zeit mit meinem Sohn und meinem Mann verbringen zu können war für mich purer Luxus. Und so bleibt für mich das vollendete Jahr 2018 eines der reichsten, die ich je erleben durfte.